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Wandlungen


H: Wie würdest du dein Stück Wandlungen charakterisieren?

O: Das Stück ist sehr dicht, sehr massiv, monumental, fast schon erdrückend. Der formale Ablauf ist kompliziert gestaltet, es gibt neun Instrumentalschichten, die am Anfang einen homophonen Satz bilden, nach kurzer Zeit beginnen nach und nach die einzelnen Gruppen, erst die Bläser, dann die Streicher, schließlich Klavier und Schlagzeug eigene Wege zu gehen. Dann spaltet sich dieser Prozeß auf die einzelnen Instrumente auf. Es sind praktisch neun formale Abläufe, die sich überlagern, wo jede Stimme eine andere Zäsur hat, jede erreicht an einer anderen Stelle das Ende eines formalen Abschnitts und beginnt einen neuen. Dadurch ist immer alles in Bewegung.

H: Wodurch unterscheidet sich denn eine Stimme von der anderen?

O: Zunächst ist die Homophonie am Anfang ganz klar zu merken, da ist alles auf einer Mittelachse, wird ein Klang langsam aufgebaut, immer mehr Instrumente kommen dazu, Crescendo, ein Akzent, dann wird der Klang wieder abgebaut.

H: Was zeichnet die Individualität einer Stimme aus?

O: Individualität entsteht dadurch, daß nach und nach jede Stimme eigene Wege geht, daß sie unabhängig von den anderen Stimmen konzipiert ist, auf keinen harmonischen Zusammenhang zurückgreift.

H: Was heißt, daß sie unabhängig von den anderen Stimmen komponiert ist?

O: Im großen und ganzen läuft jede Stimme solistisch, indem sie eigenen Gesetzen gehorcht. Gegen Ende bilden sich dann kleinere Gruppen, die nicht mehr wie zu Beginn des Stücks nach Bläsern, Streichern usw. sortiert sind, sondern frei kombiniert und zu einer neuen Einheit zusammenkommen. Zu einer komplexeren Einheit. Der formale Ablauf und die Gestik der Sprache, die typischen expressiven Intervalle sind wieder gemeinsam. Es ist wieder eine normale polyphone Musik am Schluß.

H: Also ist Wandlungen ein Gang von der Gemeinsamkeit, der Ununterscheidbarkeit hin zu einer individuellen Ausformung und von da zu einer neuen Gemeinsamkeit. Ist die Komposition wirklich die Metapher einer Idee?

O: Natürlich steckt diese Gedankenwelt darin. Das ist praktisch die musikalische Formulierung einer Utopievorstellung, auch einer gesellschaftlichen Vorstellung. Für mich hat diese Idee beim Komponieren eine Rolle gespielt. Wenn ich vor dem leeren Blatt Papier stehe und im Prinzip alles machen kann, muß ich irgendwas haben, wonach ich entscheide, was ich mache. Und da sind für mich solche Ideen wichtig, als Grundlage, Träger. Genauso könnte man irgendwelche Materialbegriffe als Grundlage nehmen, serielle Proportionsreihen etwa. Möglichkeiten gibt's viele. Für mich ist wichtig, daß dies nur ein Hilfsgerüst ist.

H: Ist Homophonie mit Ununterscheidbarkeit gleichzusetzen?

O: Wir können das natürlich auf dieser Ebene weiter besprechen, die Homophonie ist in dem Augenblick ein Zusammenwirken einzelner Momente, ohne daß jedes einzelne eine besondere Bedeutung hat. Man könnte das mit unserer Vorstellung vom Ameisenstaat vergleichen - wie es die Ameisen sehen, weiß ich nicht. Aber für uns machen die Partikel das Gesamte aus. Daraus emanzipieren sich dann in Wandlungen die einzelnen Bestandteile zu einer anderen Form von Gemeinsamkeit.

H: Eine solche Idee reicht aus, um die ersten Zeichen aufs Papier zu bringen?

O: Es ist ein erster Schritt. Das nächste ist dann das formale Konzept. Nachdem die allgemeine Idee da ist, konkretisiert sich das Einzelne. Ich komponiere meistens von außen nach innen. Ein Maler z.B. bespannt seine Leinwand und hat mit dem Format schon den ersten Abschnitt formuliert, die erste Entscheidung getroffen. Ich beginne ebenso. Zuerst lege ich die Dauer des Stückes fest und die Anzahl und Art der Instrumente (das Format in der Musik) und beginne dann, die Fläche abzustecken. Danach kommen Grobstrukturen, die Einschnitte, wie es sich entwickeln soll, wann sich die ersten Gruppen herausbilden, wann sich die Gruppen weiter aufteilen und schließlich der Zeitpunkt, an dem wieder alles zusammenkommt. Damit stehen die Proportionen der einzelnen Abschnitte fest.

H: Dann läßt du der Improvisation wenig Raum.

O: In dem Stück ist für Improvisation im Formalen überhaupt kein Platz. Es gibt eine Stelle, wo die Bläser innerhalb eines abgesteckten Rahmens improvisieren, aber es geht nicht um den formalen Abschnitt. Es gibt auch für das Klavier eine Stelle, wo der Rhythmus nicht exakt notiert ist, wo also kleine Schwankungen hereinkommen.

K: Dann hörst du also irgendwann auf, weiter zu strukturieren und läßt es zu Einzelentscheidungen kommen?

O: Es ist so, daß ich die letzte Entscheidung treffe, wenn ich die Note hinmale. Bis dahin bleibe ich flexibel. Ich halte mir manchmal auch andere Sachen offen.

H: Wie hast du die einzelnen Stimmen komponiert?

O: Ich habe versucht, für die Abläufe Charaktere zu formulieren. Es gibt sowohl den spätromantisch expressiven Gestus als auch geräuschhafte Elemente, die sich davon ziemlich absetzen. Ich versuchte, in den neun Instrumentalschichten, in denen nacheinander die verschiedene Stadien ablaufen, einen lebendigen Prozeß zu komponieren, in welchem die einzelnen Stimmen jeweils eine ganz eigene Ästhetik entwickeln.

H: Meinst du Klangcharaktere?

O: Charakter ist nur ein Hilfsbegriff. Man könnte es fast auf den romantischen Begriff des Charakterstücks bringen, nur daß sich neun solcher Charakterstücke überlagern und widersprechen.

H: Aber die einzelnen Stimmen unterscheiden sich doch nicht total voneinander, um eine psychologische Metapher zu gebrauchen: es gibt doch nicht eine atemlos hysterische Stimme und eine melancholisch weit ausschwingende. Es gibt doch eine gewisse Einheit.

O: Was du als Einheit bezeichnest, ist die Einheit meiner Sprache. Daß ich als Komponist ein mehr oder weniger begrenztes Vokabular habe ist klar ­ auch wenn ich versuche dies zu erweitern und natürlich hoffe, daß es einen Entwicklungsprozeß gibt ­ aber es konzentriert sich zum Schluß doch immer wieder auf ein bestimmtes Vokabular. Auf der anderen Seite gibt es schon sehr unterschiedliche Charaktere, die vielleicht nicht immer im Extrem zusammenstoßen, weil der Zusammenstoß auch nicht geplant wurde von mir. Es war nicht in der Weise geplant, daß ich mir sagte, an der einen Stelle muß die Stimme hysterisch, an der anderen Stelle melancholisch sein. Ich wußte für jede Stimme nur: da fängt sie an, da hört sie auf. Dann habe ich den Entwicklungsprozeß gesucht, so daß die Stimme einen logischen Weg von hier nach dort, aber eben jede Stimme einen anderen Weg geht.

K: Ist das nicht eine Überforderung des Hörers? Neun eigenständige Stimmen!

O: Es ist eine Frage der Voraussetzung, mit der ein Hörer herangeht. Wenn man versucht die Musik zu analysieren und sie auseinanderzunehmen, dann ist man total überfordert. Es ist nicht Sache des Hörens, die Musik in ihrem atomaren Aufbau wahrzunehmen, sondern sie als "Natur" zu nehmen. In der Natur ist man es gewohnt Dinge, die hoch komplex sind, als etwas Normales und Vertrautes wahrzunehmen. Wir sehen oft Gesamtkomplexe als Einheit, obwohl da eine komplexe Binnenstruktur ist, eine Dramatik in der Binnenstruktur, wo sich irgendwelche Käfer morden und wir sie vielleicht nicht einmal sehen, und das Ganze als entspanntes und ruhiges Ambiente wahrnehmen.

H: Da fängt aber die Individualität des Hörers an, denn es gibt sicher Leute, die mit der Lupe durch den Wald robben um den Käfern beim Morden zuzuschauen. Gestehst du dem Hörer zu, daß er sich auf eine der Stimmen konzentriert?

O: Das gestehe ich ihm zu, und es ist auch ein Ansatzpunkt meiner Arbeit, daß es verschiedene Blickwinkel gibt. Das ist wie bei einer Plastik, ich kann mich vor sie hinstellen und sie ansehen, weiß aber, daß ich nur einen von vielen Blickwinkeln habe, daß man die Plastik auch von hinten, von oben und unten, von überall ansehen kann; auch gibt es verschiedene Beleuchtungen. Es gibt nicht den idealen Blickwinkel.

H: Du machst dem Hörer also quasi ein Angebot, etwas auszuwählen?

O: Er kann sich auswählen, was ihm im Moment etwas geben oder sagen kann. Es besteht nicht das Dogma, etwas so oder so betrachten zu müssen. Ich versuche das in meiner Musik vermehrt zu berücksichtigen. Kunst entsteht für mich nicht in der Werkstatt, sondern im Kopf des Hörers. Vorher ist es nur ein akustisches Ereignis wie jedes andere.

H: Nimmst du dich als Künstler, der eine Aussage machen will da nicht völlig zurück, wenn du die Interpretation dem Hörer überläßt? Formulierst du gar keinen Sinngehalt?

O: Doch, Sinngehalt formuliere ich schon, das ist für meine Arbeit wichtig und ich kann nicht anders, nur verlange ich nicht, daß dieser Sinngehalt von anderen übernommen wird. Ich missioniere nicht. Es gibt für den Hörer keine Notwendigkeit den Sinn heraus zu analysieren, den ich hineingelegt habe. Das Stück tritt in einen eigenen Dialog mit dem Hörer. Da kann sich nicht ständig der Komponist hineindrängen.

H: Also keine Objektivität.

O: Nein.

(aus einem Gespräch zwischen F. M. Olbrisch, A. Kirchhoff und F. Hilberg vom 12.11.1988 in Berlin)

Programmheftbeitrag

AufBrüche StandPunkte KonFronTationen

AKADEMIE DER KÜNSTE
Berlin, 1988