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Im Labyrinth der Zeiten und Orte

"Ausgesprochen oder nicht - wohl jeder kreative Mensch hängt dem Traum nach, ein Demiurg, ein Weltenschöpfer zu sein, dessen planvoller Wille ein ganzes Universum gleichsam aus dem Nichts hervorbringt, um damit jeder Beschränkung durch Naturgesetze zu spotten." Mit dieser ironisch gemeinten Unterstellung beginnt Frank Hilberg sein Rundfunkfeature über das radiophone Projekt FM o99.5 und fährt dann mit der rhetorischen Frage fort: "Wo, wenn nicht in der Kunst, hätte dieser Traum seine Berechtigung und seinen fruchtbaren Niederschlag?" Dabei ist die Nähe zum "Freudschen Versprecher" vom "furchtbaren Niederschlag" gewollt.

»Der Künstler als Weltenschöpfer«: Diese Ikone der bürgerlichen Kultur sollte, wenn sie ernstgenommen wurde und nicht reine Glasperlenspiele bezeichnete, die Ethik seines Handelns mitbestimmen. Er war aufgefordert, die gesellschaftliche Funktion der - seit dem Ende des 18. Jahrhunderts - immer argumentationsloser werdenden Theologie in die Kunst hinüberzuretten. Und unter den Vorzeichen des christlichen Erbes hieß das auch, gewollt oder ungewollt, sich als Weltenrichter zu verstehen - oder wenigstens einen Maßstab für ethisches Handeln zu liefern. Das kündigte sich an in Schillers Gedanken zur "ästhetischen Erziehung des Menschen", ging über Schelling und Schlegel bis zu Wagner und Nietzsche.

Obwohl seit der Romantik bereits eine Kluft des Vergessens die ästhetischen Phänomene von der Welt der theoretischen Erkenntnis und des moralischen Handelns zu reinigen versuchte, mußte selbst die Romantik »mindestens diskriminieren können zwischen einer Macht, die es verdient, geschätzt, und einer, die es verdient, abgewertet zu werden.« Dies alles wäre für uns nur von historischer Bedeutung, wenn nicht dieser immer wieder neu aufgestellte, letztlich stets moralisierende Anspruch - besonders aus deutscher Sicht - als Damoklesschwert die zeitgenössische Musik bis in die Gegenwart überschatten würde.

Ein Damoklesschwert ist dieser Anspruch, da er einerseits dem Kunstschaffenden das Glück eines gesellschaftlichen Bezugssystems verspricht, welches ihm helfen soll (und geholfen hat), seine »Elaborate« nach einem allgemeinverständlichen Wertezusammenhang auszurichten, ihn aber andererseits mit Stagnation wenn nicht gar Regression als einer stets drohenden Gefahr konfrontiert; denn der eben genannte Anspruch ist untrennbar mit der Forderung nach Modernität und Erneuerung verknüpft, auch wenn diese Erneuerung gleichzeitig den Blick zurück ins Atavistische beinhaltet.

Zwischen Restauration und naivem Fortschrittsglaube wird daher zwangsläufig ein Diskurs künstlerischen Wirkens geschaffen, der nicht nur die Geschichte der Neuen Musik - und auch nicht erst seit Adornos Ausspruch - prägt durch eine Kontroverse über ihr "Altern". Mit regelmäßiger Sicherheit erscheint die scheinbare Erkenntnis einer "Stagnation".

So auch in dem kürzlich unter dem Titel "Musik als existentielle Erfahrung" erschienenen Gespräch zwischen Helmut Lachenmann und Ulrich Mosch. Ich greife dieses Gespräch auf, weil es mir typisch erscheint für die Beurteilung der momentanen Situation in der Neuen Musik. Im Gegensatz zu seinem kaum vier Jahre älteren Beitrag "Über Strukturalismus" beschreibt Lachenmann hier aus einer "wir"-Position heraus die unmittelbare Vergangenheit und spricht ihr Qualitäten zu, die er der Gegenwart verwehrt. Wie auch in älteren "Kritiken" wird die vergangene Zeit als ein Ort situiert, an dem die Welt gerade noch in Ordnung war; das ist alles in allem nichts neues.

Schon immer gehörte es zum Diskurs zwischen "Vätern" und "Söhnen", daß der Verständigungsprozeß für einen Moment auf radikale Konfrontation ausgelegt werden muß, um der Erstarrung zu entkommen. Immerhin ist es Lachenmann, der die Konfrontation vorantreibt - eine Aufgabe die im allgemeinen den "Söhnen" zufällt -, und er nimmt sich selbst von seiner Kritik nicht aus.

Mit Hilfe einer virtuos geführten Rhetorik entfächert er eine Reihe von Maximen, deren Wortgewalt jedoch über eigene Schwachstellen hinwegtäuscht. Sie ist widersprüchlich, da sie selbst etwas in Anspruch nehmen will, was sie gleichzeitig der jüngeren Generation zum Vorwurf macht: "Ich sehe überhaupt keine Ansätze, die weiter gegangen sind als das, was wir gemacht haben. [...] Ansätze bei den Jungen, die entscheidend darüber hinausgehen, scheinen mir versteckt in einem undurchdringlichen Gestrüpp von unsicherem Epigonismus."

Da wird versucht, der jungen Komponistengeneration eine Ethik zu suggerieren, die so tut, als hätte das Adornosche Weltbild nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit. Gleichzeitig wird aber die Übernahme einer bewährten Tradition als "unsicherer Epigonismus" angekreidet: hier wird mit zweierlei Maßstab gemessen.

Es ist unsinnig, auf der einen Seite eine Erneuerung zu verlangen und auf der anderen Seite die "Ansätze der Jungen" mit den überkommenen Wertekriterien zu messen. Das kann auch durch die scheinbar subjektivierte Zurücknahme der Sprache nicht kompensiert werden. Entweder unterschätzt Lachenmann in seiner Sprache die Kategorien der Macht, denen er Kraft seiner kompositorischen Autorität nicht entfliehen kann, oder aber er ist sich dessen bewußt, dann wäre diese Sprache zumindest ein rhetorisches Mittel zur Täuschung.

Ich möchte hier - um Mißverständnissen vorzubeugen - klarstellen, daß es mir nicht um die unter diesen Maximen entstandenen Kompositionen geht. Es hat sich gezeigt, daß sie sich hervorragend als Folien für eine ganze Reihe der bedeutendsten Werke eignete. Mir geht es um die Frage, ob für die Kunst und besonders für die Musik allgemeine ethische Hintergründe - ungeachtet der Sachlage, daß dies achtenswert ist - zwingende Voraussetzungen darstellen; oder ob nicht gerade durch die Eigendynamik der sich zwangsläufig einstellenden Dogmen der unumgängliche Konflikt zwischen Traditionsbezug und Fortschrittswille in einen allzu starren, wie auch immer gearteten Historismus verwandelt wird.

Sicherlich ist »geschichtlich und gesellschaftlich unberührtes bzw. unbelastetes« Komponieren eine Utopie, aber ist der Umgang mit dieser Einsicht einzig auf der Grundlage moralisierenden Denkens legitim?

Ich zitiere Jürgen Habermas, der in seinem »Philosophischen Diskurs der Moderne« bemerkt, daß "der Historismus die Welt als Ausstellung inszeniert und die genießenden Zeitgenossen in blasierte Zuschauer verwandelt." Sollte das nicht Anlaß zu Überlegungen geben, den Umgang mit der Vergangenheit auf andere Art und Weise zu suchen? - Ich glaube, daß man den Begriff des Historismus hier durchaus weiter fassen kann als im allgemeinen üblich. Walter Benjamin geht in seiner 7. Geschichtsphilosophische These noch weiter und spricht von der Barbarei, welche allen Dokumenten der Kultur und dem Prozeß ihrer Überlieferung anhaftet.

Wenn man an Stelle der historisierenden Beziehungen eine Beziehung der geschundenen Aura und der vergegenwärtigenden Barbarei etablieren könnte, wäre zumindest die verlogene Metapher einer gerade noch intakten Vergangenheit beseitigt. Die Gefahr eines moralisierenden Wertekanons bliebe allerdings bestehen.

Doch das wäre ohne Belang, handelte es sich dabei lediglich um private Kompositionsmittel. Es erlangt erst dann allgemeine Bedeutung, wenn das ethische Wertesystem als Rezeptionsgrundlage »musikalischen Verstehens überhaupt« aufgewertet wird, und wenn damit die unumgänglichen Selbsterhaltungs- und Herrschaftsimperative ins Unerträgliche gesteigert werden, ganz genau im Gegensatz zum ethischen Anspruch.

Es stellt sich die Frage, ob es möglich sein kann, einigermaßen funktionstüchtige Kriterien zur Beurteilung künstlerischer Arbeiten zu entwickeln, ohne auf eine außerhalb dieser Arbeiten liegende Ethik zurückgreifen zu müssen und ohne auf der anderen Seite jeden gesellschaftlichen Bezug und damit jegliche Möglichkeit von Kommunikation aufzugeben, und statt dessen in den elfenbeinernen Türmen einem Narzißmus der Glasperlenspiele zu frönen.

Das Ganze mag sich anhören wie einer jener vielen peinlichen Versuche, die Komponisten unternehmen, um durch philosophisches Dilettieren die magere Substanz ihrer Arbeiten zu kaschieren. Dem kann ich nur zustimmen, und ich bin keineswegs der Ansicht, daß diese Art von Gehirnakrobatik gefördert werden sollte, aber es gibt bisweilen Momente bei jeder kreativen Arbeit, wo der Kommunikationszusammenhang als die Folie gemeinsamen Meinens und Verstehens für einen Augenblick in die Betrachtungen mit einbezogen werden muß.

Ich möchte daher im folgenden einen Gedanken vorstellen, der aus ähnlichen Überlegungen heraus, wie ich sie vorhin angesprochen habe, versucht, einen anderen Weg einzuschlagen, in vollem Bewußtsein darüber, daß dieser Weg vorerst mit Schlacken überkommener Praktiken verschüttet ist.

Marcel Duchamp äußerte 1952 die Ansicht, daß Kunst nicht in den Händen der Künstler, sondern in den Köpfen der Rezipienten entsteht. Seine Ready mades sowie viele Arbeiten von Joseph Beuys und anderen ergäben ohne diese Einsicht keinen Sinn. Es zeigt sich, daß für die Wertschätzungen allgemein ästhetischen Urteilens subjektive Kriterien gelten. Damit wäre die Frage nach dem Entstehungsort der Musik ebenso wie die nach dem Enstehungsort von Kunst nur aus der Perspektive des Zuschauers zu beantworten. "Aus der Sicht des produzierenden Künstlers erkennen wir aber, daß Wertschätzungen von innovativen Wertsetzungen induziert sind", so jedenfalls nach J. Habermas.

Wertsetzung und Wertschätzung sind jedoch nur so lange kompatibel, wie sie in einem kontextuellen Einverständnis gesetzt scheinen. Das kann nur in Form tradierter Übereinkünfte geschehen. Solche Übereinkünfte bilden in der Musik gleichermaßen das ethisch-ästhetische Wertesystem - die musikalische Vorbildung, aber auch die Orte des Erklingens mit ihrer Aura und vieles mehr.

Geht man aber von der Annahme aus, daß die Kontexte veränderlich sind und sich in beliebige Richtungen expandieren lassen, kann sich die Kunst in verschiedene »Lesarten« öffnen; es ist die Kunst selbst, die ihre unkontrollierbare Wirkungsgeschichte ermöglicht.

Wie vor diesem Hintergrund die vermittelnde Brückenfunktion durch die Kunstkritik erfüllt werden kann, bleibt unbeantwortet. Nur unter den Bedingungen eines geschlossenen Werkbegriffs und der Annahme, daß die Partitur, das Tonband usw. die Musik ist und sie nicht nur ermöglicht, wären die Voraussetzungen für eine Kunstkritik geschaffen.

Mit Werk meine ich hier all das, was als "es" wahrgenommen wird, was sozusagen in eine objekthafte Position gestellt ist, was vom Rezipienten isoliert wird. Dazu gehören auch viele der in der Musikwissenschaft als "offene Werkform" bezeichneten Stücke. Der Terminus "Werk" ist sicherlich nicht glücklich gewählt. Es hat sich gezeigt, daß die Verwechselungsgefahr mit dem überkommenen Werkbegriff zu groß ist. Ich werde daher im folgenden von "Werk-Ding" sprechen, auch wenn der Begriff nicht besonders schön klingt.

Es ist heilsam, in unserem Zusammenhang wieder einmal an Walter Benjamins surrealistisch inspirierte Theorie des "dialogischen Mißverständnisses" zu erinnern: "Mißverständnis", so Benjamin, "heißt die Rhythmik, mit welcher die allein wahre Wirklichkeit sich ins Gespräch drängt. Je wirklicher ein Mensch zu reden weiß, desto geglückter mißversteht man ihn."

Auf die Kunst übertragen, hat das zur Folge, daß sich kein Standpunkt mehr festlegen läßt, von dem aus das Ganze richtig beobachtet werden kann. Wenn aber moderne Gesellschaften gar nicht die Möglichkeit haben, eine vernünftige Identität auszubilden, fehlt jeder Bezugspunkt für eine Kritik. Damit verflüchtigt sich das reflexive Zentrum "Werk-Ding", auf das sich Kritik bisher beziehen konnte. An dessen Stelle treten Systemmonaden, deren gesamtheitsbildende Funktionen weitgehend wirkungslos geworden sind.

Seit etwa 1988 habe ich versucht, ähnliche Ansätze in künstlerische Formen zu integrieren. Dabei sind eine Reihe sogenannter Events entstanden, welche alle den Versuch unternommen haben, die mißliche Lage des Rezipienten zu vermeiden, der, eingepfercht unter seinesgleichen, in jene Situation gebracht wird, die ihn auf ein Objekt seiner Wahrnehmung ausrichtet. Heinz-Klaus Metzgers oft zitierte "gestohlene Lebenszeit" resultiert ebenso aus dieser mißlichen Lage wie Habermas" "blasierter Zuschauer" dorthin gehört.

Ich will hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und den Konzertsaal in Bausch und Bogen verdammen; aber seine Monopolstellung im heutigen Musikleben entspricht in keiner Weise den Anforderungen, die eine moderne Gesellschaft an die Kunst stellt. In den Räumen, in denen Kunst heute im allgemeinen zum gesellschaftlichen Ereignis wird, bedient sie zwangsläufig die bildungsbürgerlichen Mechanismen. Sie gerät dabei zu einer geheuchelten Idylle, in der selbst das Elend dieser Welt - obzwar aufgegriffen, um es kritisch zu kommentieren - noch zum kulturellen Stimulans verkommt.

Besonders evident ist in diesem Zusammenhang auch der Versuch, eine Ästhetik des Konzertsaals auch dahin zu übertragen, wo sie per se nicht funktionieren kann: im Rundfunk, auf Schallplatte und CD usw. Ich werde darauf später noch näher eingehen.

All diese Dinge deuten auf eines hin: Sie machen die Musik zur Ware, die analog zu den anderen Künsten aus Machtinteressen verwaltet wird, ganz egal, ob es die Schallplattenindustrie, die Verlage oder das Urheberrecht sind. Musik wird zu einem Wirtschaftsgut der bürgerlichen Kultur. Sie soll ihren Schöpfern Ruhm, ihren Produzenten Wohlstand und ihren Verwertern Lebensqualität garantieren. Entwicklungen können sich da nur innerhalb des Dreiecks Ruhm - Wohlstand - Lebensqualität abspielen.

Für die Komponisten bedeutet das eine Orientierung an Erfolgskonzepten, welche entweder auf vertraute Schemata zurückgreifen (Epigonentum) oder aber versuchen, um jeden Preis etwas vollkommen Neues zu machen, was letztlich eine Utopie ist.

Helmut Lachenmann sagt in seinem Artikel "Über Strukturalismus" an vergleichbarer Stelle folgendes: "Beide, kompositionstechnisch einander scheinbar entgegengesetzten, heute wirksamen Tendenzen scheinen mir zwei Seiten ein- und derselben Sache zu repräsentieren. Beide gehen sie, bewußt und oft auch unbewußt, immer wieder Allianzen miteinander ein. Beide arrangieren sich immer wieder vorschnell mit der Gesellschaft, beide sind korrumpierbar, wo diese sich vorschnell mit ihnen arrangiert." Es bleibt somit oft nur die Verknüpfung beider Aspekte zu einem Konglomerat von Gewolltem und Gemeintem, letztlich zu einem Willen zum Erfolg.

Selbstverständlich sind diese Dinge nicht an Konzertsaal, Rundfunk und CD gekoppelt, aber sie haben dort ihre wichtigsten Plattformen. Auffällig ist denn auch, daß in der Musik so ziemlich alles kritisiert wird, nur an diesen Dingen wird recht selten gerührt - hier geht es anscheinend ans "Eingemachte".

Ich möchte an dieser Stelle vorschlagen, auf all das nur zu häufig verlogene Getue von Innovation, Fortschritt, Avantgarde usw. zu verzichten, die Kunstrezeption somit von ihrem romantischen Geniekult und dem "Werk-Ding" zu befreien und sie auf den Begriff der Kommunikation - also auf die Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens - zu bringen.

Kommunikation entlastet das System vom vorgefertigten moralischen Druck, ohne dabei dem Einzelnen seine ethischen Werte zu nehmen, und sie relativiert die Intentionen der Beteiligten. Dies tut sie, indem sie die Möglichkeit zu beschreiben und zu bezeichen, was andere nicht beobachten können, also "Latenz", mit einbezieht. Damit verflüchtigt sich das reflexive Zentrum "Werk-Ding", auf das sich Rezeptionsverhalten bisher beziehen sollte. An dessen Stelle treten Systemmonaden, deren gesamtheitsbildende Funktionen weitgehend wirkungslos geworden sind. Das Ganze spiegelt sich nur noch aus der Perspektive der Teilsysteme. Diese Teilsysteme, die aufeinanderprallen, bleiben aber nicht verständnislos nebeneinander stehen, sondern arbeiten ihre Differenzen aneinander ab.

"Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz", bemerkt Niklas Luhmann in seinem Buch »Soziale Systeme« und fährt dann fort: "Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Informationswert ist nichts anderes als ein Ergebnis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt." Das bedeutet aber auch, daß Ordnung nicht zwangsläufig gesetzt zu werden braucht, um als solche rezipiert zu werden. Luhmanns Kommunikationstheorie geht noch einen Schritt weiter. In seiner »Wissenschaft der Gesellschaft« schreibt er: "Was man sich von Vernunft versprochen hat, ist nicht im Bewußtsein erreichbar. Es wird auf einer anderen Realitätsebene, in einem anderen System realisiert, nämlich durch Kommunikation. Sie kann ihre operativen Symbole mit sehr viel größeren Freiheiten einsetzen als das Bewußtsein. Sie kann täuschen, sich irren, Symbole mißbrauchen, lügen und erreicht damit Freiheiten des Umgangs mit der Außenwelt, von der die Vernunft nur träumen kann. Dann muß die Kommunikation aber lernen, mit den daraus folgenden eigenen Problemen umzugehen. Sie muß lernen, Falschmeldungen zu kontrollieren."

Solche Falschmeldungen sind seit jeher eine Domäne der Kunst. In der Musik werden sie besonders durch die Einbeziehung von Vergangenheit erzeugt. Zitate, die versuchen, als playback einer früheren Gegenwärtigkeit deren Aura nochmals aufleben zu lassen, ohne sich je über die Unmöglichkeit ihres Wollens Rechenschaft abzulegen, gehören ebenso dazu wie der undifferenzierte Umgang mit auditiven Trägermedien. Das ins heimische Wohnzimmer transportierte Abbild ist aber seiner speziellen Aura enthoben und wird zur geschichtslosen Geste. Aber so ist es nicht gemeint. Gemeint sind vielmehr die Assoziation eines Konzertbesuchs und der Täuschungsversuch, daß das Speichermedium ein weitgehend identisches Abbild des Werkes sei.

Erst wenn die Reproduzierbarkeit zum Gegenstand der Betrachtung wird, taugen die Mittel zu einer künstlerischen Formung. Das Labyrinth der Orte und Zeiten, deren Abbilder sich zu einer neuen Einheit fügen und damit ihre Herkunft verfälschen, muß selbst zum Gegenstand künstlerischer Formung werden. Die Narben und Furchen ihrer Vergewaltigung dürfen nicht weiter verdeckt werden, sondern sollten als Zeugen einer geschundenen Aura stehen.

Ähnliches gilt auch für das Zitat, sei es nun wörtlich oder nur scheinbar. Solange das Zitat nur vor dem bildungsbürgerlichen Hintergrund der exakten Zuordbarkeit funktioniert, kann es die Fesseln seiner Herkunft aus dem 19. Jahrhundert nicht abstreifen. Damit unterliegt es aber dem gleichen Hang zur Sehnsucht nach dem Unerfüllten. Da die Aura des Originals unerreichbar bleibt, begnügt sich das Zitat mit der Fassade, es gerinnt zur Floskel.

Wenn die Kunst - und genau das möchte ich hier befürworten - ihr Eigenverständnis in den Systemen des Kommunikativen verankert, kann sie auf lange Sicht ihren bürgerlich-romantischen Ballast abwerfen. Das bedeutet aber, daß sie sich den veränderten Anforderungen stellen muß. Sie gewinnt dadurch ein System von Lügen, Täuschungen, Irritationen, mißbrauchten Symbolen und anderen Emblemen, welche die Barbarei ihrer Geschichte nicht verheimlichen dürfen, damit Kommunikation entstehen kann. Denn es gilt gleichwohl: "Ohne Bewußtsein keine Kommunikation und ohne Kommunikation kein Bewußtsein", soll Kommunikation mehr sein als bloß wechselseitige Wahrnehmung.

Mit Kommunikation ist hier nicht das gemeint, was man traditionell als das Wesen der Kommunikation betrachtet, nämlich die "Übertragung" von Information, sondern eher eine Differenzierung und Synthetisierung von Information, Mitteilung und Verstehen. Die Differenz von Mitteilung und Information wird dadurch hergestellt, daß die Mitteilung als Zeichen für eine Information genommen wird. Verstehen ist dabei der laufende Aufbau und Abbau von Redundanzen, das Wegarbeiten von Beliebigkeiten, die Verringerung von Informationslasten und das Einschränken von Anschlußmöglichkeiten - und all das in dem Wissen, daß alles auch anders möglich wäre. Oder mit anderen Worten: "Psychische Systeme, die an Kommunikation teilnehmen, prozessieren in sich selbst mehr Information, als sie in die Kommunikation eingeben." (N. Luhmann)

Es gibt in diesem Modell keine unmittelbare Übertragung von Sinn. Die Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein in das was sie mitteilt, und das, was sie nicht mitteilt. Die an Kommunikation Beteiligten können lediglich durch gleichsinnigen Zeichengebrauch in der Meinung bestärkt werden, dasselbe zu meinen.

An dieser Stelle möchte ich das Labyrinth meiner Gedanken schließen. Alles was ich sagte, spielt bei meinem Radioprojekt FMo99.5 und einigen anderen Arbeiten eine Rolle. Aber auch das ist nur ein Teil im Netzwerk der Beziehungen.

FMo99.5 schließt "an das schon Gesagte" an, es greift auf Bekanntes, auf "Authentisches" zurück. Und es bietet eine Überfülle an Informationslasten, die den Verstehenden in die Lage versetzt, Redundanzen zu organisieren und in das verstandene System hineinzuvermuten, oder mit Luhmanns Worten: "Die Hintergrundwahrnehmung der Selbstreferenz zwingt zur Beobachtung als Selektion, und der Reiz des Verstehens besteht gerade darin, daß das verstandene System intransparent und unzugänglich bleibt. Man versteht trotzdem.[...] Das Raffinement des Verstehens besteht in der Auflösung der Paradoxie der Transparenz des Intransparenten. Man versteht nur, weil man nicht durchschauen kann."

Vortrag, gehalten 1994
von Franz Martin Olbrisch
Internationale Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik