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senza fine

Zur Idee:

Der Ausgangsgedanke zu senza fine wurde von Franz Martin Olbrisch - in seiner Zuständigkeit für das Fach "Studiotechnik/Angewandte Musik" an der Hochschule der Künste (HdK) Berlin- als mehrsemestriges Projekt sowohl für die Kompositionsstudenten als auch die Gäste dieser Lehrveranstaltung konzipiert. Dabei galt es, dem unterschiedlichen Wissensstand der einzelnen Studenten gerecht zu werden, das Vorhaben trotz der intendierten didaktischen Absichten zu einer konzertant überzeugenden Arbeit zu entwickeln und der bei mehrsemestrigen Projekten unvermeidlichen Fluktuation unter den Studenten entgegen zu kommen. Daraufhin wurde von F. M. Olbrisch ein Konzept entwickelt, welches folgende Punkte berücksichtigen sollte:

1. Das ganze Projekt soll den Charakter eines "Spiels" annehmen, bei dem ein festes Reglement bestimmte Bereiche determiniert, so daß der Spielraum für die einzelnen erheblich eingeschränkt ist und Konfliktsituationen durch Strategien gelöst werden müssen. Das zwingt die mitwirkenden Komponisten dazu, sich mit den ästhetischen Konzepten der anderen ausgiebig auseinanderzusetzen und ihrem latenten Solipsismus oder besser Autismus ein Bein zu stellen.

2. Die Regeln sollen so verfaßt werden, daß gegenseitige Reaktionen wenn nicht erzwungen so doch auf keinen Fall ausgeschlossen sind. Die Beiträge der Mitwirkenden können dann als eine Art "These" betrachtet werden, die sich durch Anschluß- und Kombinationsfähigkeit erst behaupten müssen. Erst wenn sich mehrere "Generationen" des "Spiels" entwickelt haben, gewinnt es seine eigene Identität.

3. Die einzelnen Beiträge sollen eine überschaubare Länge nicht überschreiten, so daß sie als Klangstudien von den Studenten auch bewältigt werden können. Der Einsatz der technischen Mittel ist dem Stand des jeweiligen Studenten anzupassen.

4. Die Aufführungssituation ist aus den o. g. Gründen immer nur ein vorläufiges Abbild. Konsequenterweise darf daher auch das Publikum keine bindende Perspektive entwickeln können. Die Darbietung ist so zu gestalten, daß die Faktoren Ort und Zeit vom Rezipienten unterschiedlich erlebt werden.

5. Die einzelnen Lautsprecherkonstellationen bilden Orte, die bewußt in die musikalische Gestaltung einbezogen werden. Der Lautsprecher soll als Instrument und nicht als Vehikel aufgefaßt werden.

Zur Geschichte:

Das Projekt wurde für den Beginn des Wintersemesters 1994/95 geplant. Die HdK unterrichtet das Fach "Studiotechnik/Angewandte Musik" in Kooperation mit der Technischen Universität (TU) Berlin. Vor Anfang des Wintersemesters 1994/95 trafen sich daher Franz Martin Olbrisch (HdK) Folkmar Hein (TU), Gerhard Behles (TU) und Orm Finnendahl (TU) zu einem Vorgespräch. Dabei wurden die technischen Einzelheiten festgelegt und aus didaktischen Überlegungen die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der "Literatur" der elektroakustischen Musik innerhalb des Projektes erörtert. Am 27.10.94 begann die Arbeit mit den Studenten im Studio der TU Berlin.

Zunächst wurden die Einzelheiten der "Spielregeln" von allen Beteiligten zusammen ausgearbeitet - d.h. in ihren Rahmenbedingungen festgelegt - und anschließend unter Zuhilfenahme computergesteuerter Zufallsoperationen als verbindliche "Ereignispartitur" ausgearbeitet.

Zur den "Spielregeln":

1. Die 16 Tonspuren werden auf sieben Lautsprechersituationen aufgeteilt. Als vorläufiger Aufführungsort werden die Räumlichkeiten des TU-Studios in Erwägung gezogen, in denen die sieben Lautsprechersituationen konkretisiert werden.

2. Die maximale Gesamtdauer wird auf ca 75 Minuten festgelegt. Es gibt sieben mögliche "Tutti"-Felder (alle 16 Spuren); alle weiteren 127 Kombinationen der 7 Lautsprechersituationen kommen je einmal vor. Die Dauern der einzelnen Kombinationen liegen zwischen 2 und 200 Sekunden, die längeren Dauern erscheinen seltener.

3. Die zunächst vertikal (in ihrer Gleichzeitigkeit) ausgearbeiteten Kombinationen werden in ihrer Reihenfolge festgelegt. Lautsprechersituationen, die in unmittelbar aufeinanderfolgenden Kombinationen vorkommen, werden als ein Event betrachtet.

4. Die Mitwirkenden werden in sieben Arbeitsgruppen eingeteilt. Dabei ist von Anfang an daran gedacht, daß die Mitglieder der einzelnen Arbeitsgruppen fluktuieren bzw. in mehreren Arbeitsgruppen gleichzeitig wirken. Jede Arbeitsgruppe erhält ein "Solo"-Event. Die Dauer dieses "Solos" kann durch eine determinierte Fermate verlängert werden. Die restlichen "Ereignisfelder" (Events) werden gleichmäßig auf die Arbeitsgruppen verteilt.

5. Jede Arbeitsgruppe setzt sich mit mindestens einem Werk aus dem Klangarchiv des TU-Studios auseinander und leitet seine ersten Arbeitsschritte von diesem Werk ab. Im weiteren Verlauf soll auch auf die Ergebnisse der anderen Arbeitsgruppen zugegriffen werden.

6. Jede Arbeitsgruppe erhält für die ihr zugewiesenen Events die alleinige Verantwortung. Was die Arbeitsgruppen in diesen Abschnitten machen, ob sie überhaupt etwas machen, ob sie es selber machen, bleibt im Ermessen der jeweiligen Arbeitsgruppe. Einziges Regulativ für aufkommende Konflikte ist der soziale Druck, den die anderen Gruppen ausüben können. Außerdem ist es den einzelnen Arbeitsgruppen jederzeit erlaubt, bereits existierende Beiträge nachträglich zu verändern und/oder auf Beiträge der anderen Arbeitsgruppen zurückzugreifen und diese in die eigene Arbeit zu integrieren.

Zur "Ereignispartitur":

Diese Partitur sieht sieben Lautsprechersituationen vor, für die - nach Maßgabe der Verteilung und im Rahmen der "Spielregeln" - von den sieben Arbeitsgruppen Beiträge zu erstellen sind. Innerhalb der "Ereignisfelder" besteht für die jeweilige Gruppe extreme Freiheit, außerhalb derselben dürfen keine Beiträge erscheinen; evtl. Regelverstöße werden von allen Mitwirkenden geklärt.

Zu den Lautsprechersituationen:

Da zu Beginn der Arbeit an eine Uraufführung in den Räumen der TU Berlin gedacht war, wurde auch die Konzeption der Lautsprechersituationen auf die technischen und räumlichen Bedingungen des TU-Studios abgestimmt; d.h. im einzelnen:

2 Spuren Stereo in Raum 324
1 Spur Mono im "Glaskabuff" Raum 324
1 Spur als Flächenstrahler von oben in Raum 324
4 Spuren Quadrophon im Studioraum 326
2 Spuren Stereo in Raum 327
5 Spuren in Reihe auf dem Flur vor dem Studio
1 Spur Mono auf dem Damen WC

Zu den Arbeitsgruppen:

Die personelle Zusammensetzung der einzelnen Arbeitsgruppen hat im Laufe der Zeit unterschiedlich stark fluktuiert. Zu Beginn der Arbeiten lautete sie wie folgt:

Arbeitsgruppe 1 = Gerhard Behles & Robert Henke; Arbeitsgruppe 2 = Jens-Uwe Dyffort, Wassily Kokkas & Kirsten Reese; Arbeitsgruppe 3 = Jens-Uwe Dyffort & Sebastian Claren; Arbeitsgruppe 4 = Antonie Budde & Wassily Kokkas; Arbeitsgruppe 5 = Nils Frederking & Kirsten Reese; Arbeitsgruppe 6 = Mi-Young Han & Franz Martin Olbrisch; Arbeitsgruppe 7 = Orm Finnendahl & Yun-Kyung Lee.

Die letzte Zusammensetzung der Gruppen sah folgenderma§en aus: Arbeitsgruppe 1 = Robert Henke & Gerhard Behles; Arbeitsgruppe 2 = Wassily Kokkas & Kirsten Reese; Arbeitsgruppe 3 = Jens-Uwe Dyffort; Arbeitsgruppe 4 = Antonie Budde, Aitana Kasulin & Nils Frederking; Arbeitsgruppe 5 = Antonie Budde, Nils Frederking & Chris Schnader; Arbeitsgruppe 6 = Franz Martin Olbrisch; Arbeitsgruppe 7 = Folkmar Hein.

Konzepte der einzelnen Arbeitsgruppen:

Arbeitsgruppe 1:

Ausgangspunkt war eine Schilderung der Arbeitsbedingungen an der Produktion »Mosaico« von Sukhi Kang aus dem Jahre 1981. Damals besaß das TU-Studio keinerlei nennenswerten digitalen Verarbeitungsmsglichkeiten, so daß diese Produktion ausschließlich mit analogen Mitteln realisiert werden mußte. Idee der Arbeitsgruppe 1 war es nun, sich im Zeitalter der Digitalisierung mit den Arbeitsbedingungen und der Ästhetik des analogen Studios auseinanderzusetzen, und somit die Vor- und Nachteile des "handgemachten" zum kompositorischen Prinzip zu erheben.

Arbeitsgruppe 2:

Diese Arbeitsgruppe hat das Werk »Skalen 2:3:4« von Boris Blacher zum Ausgangsmaterial ihrer Beiträge genommen, bevor sie im weiteren Verlauf des Projektes auch auf die Ergebnisse der anderen Gruppen zurückgreifen konnte. Die Mitglieder der Gruppe 2 sind sich derzeit nicht einig, aus welchem Grund Boris Blachers Werk als Ausgangsmaterial ausgewählt wurde. Reizvolle Tatsachen waren unter anderem der Vermerk "erste Eigenständige Tonbandproduktion des Elektronischen Studios der TU Berlin" in den Annalen des Studios, das Entstehungsdatum (1964), und die karge, außergewöhnlich reduzierte Klangfarbenstruktur des Stückes. Wassily Kokkas hat die Idee einer "Orchestrierung" durch Bearbeitung bis zu einem Punkt verfolgt. Kirsten Reese arbeitete zunächst mit Schnittechniken und Sample-Rate-Konvertierung, später mit den Möglichkeiten eines Granularsynthese-Programms von Gerhard Behles.

Arbeitsgruppe 3:

Als Material wurde hier die Impulsspur aus John Cages »Carillon-Piece Nr.4« verwendet. Die Spur besteht aus unregelmäßigen Faustschlägen auf einen Tisch, die bei Cage das Spiel des Carillonisten begleiten.

Ohne diese Spur zunächst zu verändern hat die Gruppe 3 mittels Zufallsoperationen Zugriffe organisiert, die verschiedene Ausschnitte aus dieser Originalspur auf die ihr zur Verfügung stehenden Events innerhalb des "HdK-Spiels" übertragen. Dadurch treten die einzelnen Bestandteile der 10 Minuten dauernden Impulsspur an verschiedenen Stellen auf. Durch dieses Zugriffsverfahren auf ein einziges Soundfile entstehen bei den anschließenden klanglichen Veränderungen einzelner Regionen unvorhergesehene Veränderungen an den korrespondierenden Stellen innerhalb von senza fine.

Arbeitsgruppe 4 & 5:

Gruppe 4 und Gruppe 5 haben stets sehr eng zusammengearbeitet, was sich besonders aus der personellen Zusammensetzung der beiden Arbeitsgruppen ergab; daher ist auch das Klangmaterial beider Gruppen kaum zu trennen. Es besteht zum einen Teil aus einzelnen Soundfiles der TU-Produktion »Penthesilea« von Sukhi Kang und zum anderen Teil aus übernommenen Abschnitten der anderen Arbeitsgruppen.

Arbeitsgruppe 6:

Franz Martin Olbrisch stellte anfangs TU-Produktionen nach strengen, mechanistischen Auswahlkriterien zusammen und nahm sie in anonymisierter Form auf Tonbandkassette auf. Von dieser Kassette hat Mi-Young Han nach individuellen Kriterien einzelne Abschnitte ausgewählt, die anschließend zum Ausgangsmaterial der weiteren Arbeitsschritte wurden.

Aus den Soundfiles wurde eine proportional exakt verkleinerte Abbildung des ganzen "HdK-Spiels" angefertigt, die sowohl die einzelnen Lautsprechersituationen, als auch die Arbeitsgruppen beinhaltete; dabei war die Anzahl der Lautsprecher innerhalb einer Situation durch die Anzahl der übernommenen Spuren abgebildet, die einzelnen Arbeitsgruppen durch einen eigenen Submix repräsentiert, das heißt, die Arbeitsgruppen wurden aufgefordert, die ihnen entsprechenden Submixe, nach vorgegebenen Kriterien selbst zu überarbeiten, ohne dabei die Zeitproportionen zu verändern. Aus diesem Material wurden - mit Ausnahme weniger kleiner Sprenkel- alle weiteren Beiträge der Arbeitsgruppe 6 hergestellt.

Arbeitsgruppe 7:

Diese Arbeitsgruppe bezieht ihr Material ausschließlich aus der Komposition »Penthesilea« von Sukhi Kang. Die Entscheidung für »Penthesilea« wurde besonders durch den Mangel an Sprachklängen bei den restlichen Arbeitsgruppen getroffen.

Senza fine ist eine Produktion des Elektronischen Studios der TU Berlin, uraufgeführt im Rahmen der Klangwerkstatt 1995 im Ballhaus Naunynstraße, Berlin.