Programmheftbeitrag
1742 ließ der Preußenkönig Friedrich II. die Wittener
Bergwerksgruben von dreißig Schützen besetzen und erhob damit
gewaltsam den seit Jahrzehnten andauernden Anspruch seiner Vorgänger
auf das »Kohleregal« als Recht des Landesherren. Im gleichen
Jahr widmete ihm sein Kammercembalist Carl Philipp Emanuel Bach im fernen
Berlin die Preußischen Sonaten. Zwei Ereignisse, die - nahezu zeitgleich
- auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Auch wenn beide
Begebenheiten - die Preußischen Sonaten für die Musikgeschichte
und die preußischen Ansprüche für die Geschichte des Ruhrbergbaus
- in der weiteren Entwicklung zumindest eine gewisse nationale Bedeutung
erlangten, bleiben sie für unsere Geschichtswahrnehmung getrennte
Ereignisse, selbst vor dem Hintergrund, daß sie in der Person des
Preußenkönigs kulminieren. »Gleichzeitigkeit ist«,
wie Jean Piaget es ausdrückt, »keine primitive Intuition, sie
ist eine intellektuelle Konstruktion«. Demzufolge können wir
Simultaneität zwar konstruieren und sie anschließend in unserem
Denken wie eine äußere Gegebenheit benutzen, und in der Regel
sind wir uns der internen Konstruktion nicht einmal bewußt, aber
wir sind ihr nicht ausgeliefert. Nicht jede Gleichzeitigkeit stellt automatisch
eine Sinneinheit dar.
Szenenwechsel: Die Zeche Nachtigall als Aufführungsort bei den
Wittener Tagen für Neue Kammermusik 1999. Auf den ersten Blick dominieren
die Bauten der 1892 errichteten Ziegelei, zumal das, was die Zeche einst
ausmachte, hauptsächlich unter Tage liegt. Bei genauerem Hinsehen
sind die Überreste des märkischen Steinkohlebergbaus aber kaum
zu übersehen. Besonders die Einwirkungen auf die Sozialstruktur dieser
Region ist allgegenwärtig. Genau an diesem Punkt habe ich versucht,
mit meinem Klangenvironment anzusetzen und gleichzeitig meine eigenen Kindheitserinnerungen
an den »Ruhrpott« mit einzubeziehen.
Den Kern der Arbeit bilden sieben kleine akustische »snapshots«,
welche immer wieder aus installationsartigen, durch den Besucher manipulierbaren
Klangflächen hervortreten. Beide haben das gleiche Ausgangsmaterial
(ergänzt durch einzelne Klangereignisse der anderen Installationen).
Für den Besucher ist es schwer, die Grenzen zwischen vorgefertigter
Komposition und interaktiver Installation zu bestimmen, zumal auch die
interaktiven Teile nicht linear auf die einzelnen Eingriffe reagieren.
Die Aktionen der Besucher fließen zunächst in ein Geflecht algorithmischer
Bezüge ein und führen erst in ihrer Gesamtheit zu einem hörbaren
Resultat. Das Verhalten der einzelnen Besucher ist stets relevant, aber
ihr unmittelbarer Anteil am Gesamtgeschehen ist nur indirekt zu bestimmen.
Sie agieren in einem sozialen Geflecht, und je mehr sie dieses durchschauen,
um so gezielter können sie ihre Aktionen ausführen.
In diese Interaktionsflächen intervenieren die vorgefertigten
»snapshots«. Nicht, daß sie plötzlich auftauchen,
ihr Auftreten ist eher unmerklich. Zunächst verringern sie lediglich
die interaktiven Möglichkeiten, bevor sie sich mehr und mehr etablieren.
Erst mit dem Auftauchen der Textpassagen ist die Situation eindeutig. Was
sich beim ersten Eindruck als einheitlicher Zeitverlauf darstellt, muß
durch die Wahrnehmung zunächst einmal dekonstruiert werden. Es bleibt
die Aufgabe des Besuchers, seine Eindrücke zu dissimilieren. Er wird
zum Akteur und durch seine Einwirkung verliert die äußere Situation
ihre Erzählstruktur. Alle Bezüge, sei es zur Topographie des
Ortes, sei es zu den Kindheitserinnerungen des Komponisten, dienen der
Entscheidungshilfe bei der kompositorischen Arbeit; für den Hörer
können sie - hat er erst einmal die Erzählstruktur verlassen
- bedeutungslos bleiben. In gleicher Weise markieren auch die konkreten
historischen Daten, die verschlüsselt in den aufblitzenden Musikzitaten
auftauchen, eher ein konstruktives, als ein narratives Element. Was als
Orientierung bleibt, ist die Simultaneität der Ereignisse.
Es ging mir bei diesem Projekt vorrangig darum, die Möglichkeit
dieser intellektuellen Konstruktion ins Bewußtsein zu rufen, in der
Hoffnung, in ihr einen Teil jener Muster vorzufinden, die unsere Handlungsweisen
bestimmen - das Bergwerk somit als Sinnbild zu deuten, als Ort der verborgenen
Schätze, auch wenn sie schwarz und unscheinbar erscheinen.
F.M.O.
================================ Aus hingetupften Zufallsklängen strickt sich ein filigranes, facettenreiches Gewebe, das zu vagen, nur geahnten rhythmischen Mustern sich verknotet, ohne in starrer Regelmäßigkeit zu erstarren. Da kann schrilles Räderkreischen einbrechen und sich ein flächenhaftes Knistern und Sausen von Gesteinsgeräuschen entfalten. Zufall und Ordnung sind bei Olbrisch in einem Gespräch, das unentschieden bleibt.
Feuchte, Tiefe, Finsternis soll der Raumklangkosmos suggerieren, den Zuhörer in jene unbekannte Erdtiefe entführen, die verheißungsvoll lockt und abstösst zugleich. Am Holztischchen flicht Rainer Homann mit gerader, bewusst auf Effekte verzichtender Stimme kurze Texte in die Klanggewebe.
Blumige Bekenntnisse des Verlockenden, Faszinierenden, aber auch Dämonischen, das im magischkalten schwarzen Gestein ahnungsvoll aufglimmt, formulieren die Romantiker Novalis und Tieck. Klagen über die Gefahren schlecht befestigter Stollen, gesundheits–, ja lebensfeindliche Arbeitsbedingungen und die soziale Misere der Arbeiter bringen historische Bittbriefe zum Ausdruck. Zeugnisse davon, dass Faszination und Schrecken des Bergbaus dicht beieinander liegen. Gespannt kann man den zarten, sich aus scheinbar zufälligem Klangmaterial ergebenden rhythmischen Mustern nachhören, oder von Homanns unprätentiöser Lesung sich zu Reflexionen über ästhetische und ökonomische Aspekte des schwarzen Gesteins verleiten lassen.
(Braunschweiger Zeitung vom 22.7.2000) |