Polyszenisches Musiktheater Grundidee meines Konzeptes war es,
ein Bühnenwerk zu schaffen, das die bisher existierenden musikdramatischen
Elemente in einem neuen Sinnzusammenhang auf die Bühne bringt. Dabei
waren mir folgende Punkte wichtig: Zunächst ging es darum, eine Textkonstellation
zu finden, die es ermöglichte, das Geschehen aus einem stringenten
Ablauf zu entlassen und die lineare Dramaturgie zugunsten eines Nebeneinanders
formal gleichwertiger "Bilder" aufzugeben. "Schicksalhaftigkeit", die einem
geschlossenen, zielgerichteten Text zwangsläufig anhaftet, sollte
vermieden werden. Dann waren die Formen der jeweiligen Texte mit musikalischen
Strukturen zu verknüpfen, ohne daß dabei wieder die Musik des
Textes gehorsame Dienerin würde. Sie sollte von jeglicher Begleit-
bzw. Leitfunktion entbunden sein und ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten
folgen dürfen. Nicht selten wurde daher der Text einer musikalischen
Idee untergeordnet, oder besser, angeschmiegt. Im Wesentlichen aber sind
die Abläufe gleichberechtigt aufeinander bezogen und die Zeitstrukturen
in einer Weise überlagert, daß beide zwar einander durchkreuzen
können, sich aber nicht gegenseitig blockieren. Die Gesangslinie bleibt
dabei, naturgemäß, dem Text am engsten verbunden.
Eine Besonderheit des Projektes ist die Austauschbarkeit der einzelnen
Szenen. Es fügen sich - im Idealfall von Aufführung zu Aufführung
verschiedene - einzelne Bilder, die aus einer Gesamtheit zusammengestellt
werden, zu einem Korpus, der einer je anderen Dramaturgie folgen kann.
Durch die mosaikhafte Anordnung richtet sich der Blick einerseits auf die
momentane Situation eines Bildes, in der Gegenwart im Sinn des Dramas sich
manifestiert, andererseits aber wird, wie bei einer Collage, der eigentliche
Vorgang erst durch die Nahtstellen der einzelnen Teile sichtbar. Der hinter
den einzelnen Bildern stehende Vorgang besteht in der permanenten Verschiebung
von Positionen. der jeweilige Handlungskontext relativiert die Positionen,
Einschätzungen, Stellungnahmen und macht auf die Brüche der Charaktere
aufmerksam. Die textlichen Mittel dazu sind "klassisch" - Monolog, Dialog,
Ensembles. Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen und lassen sich
aufeinander als Handlung und Kommentar beziehen. An manchen Stellen ist
es allerdings kaum möglich, eindeutig zu bestimmen, was Handlung und
was Kommentar ist, die Zuordnung liegt letztlich beim Rezipienten, der
nicht weniger als der Regisseur die Bilder in einen geschlossenen, eigenen
Zusammenhang bringt.
Die Gemeinsamkeit der für die Wittener Aufführung zusammengestellten
Bilder liegt in der Problematik der Vereinsamung. Vereinsamung, Angst und
Zweifel bilden den roten Faden einer Konfiguration von Charakteren, die
sich jeweils anders ausprägt.
- Prolog: Das 1904 entstandene fünfaktige Schauspiel "Rübezahl"
war von seinem Autor Paul Scheerbart als revolutionäres Lehrstück
intendiert. Den resultierenden Widerspruch zwischen formalem Traditionalismus
und revolutionärem Geist begründet er mit der pädagogischen
Notwendigkeit der Vermittlung seiner Ideen sowohl dem Publikum, als auch
dem Theaterbetrieb gegenüber. Seine phantastischen Imaginationen opponierten
wider die obrigkeitshörigen Denkschemata des Wilhelminischen Zeitalters
mit seinem Militarismus, Kolonialismus und vermeintlichen Rationalismus,
indem er den Schauplatz in eine unterirdische Steinwelt verlegt.
Rübezahl ist mit seiner pädagogischen Absicht, Welt und Menschen
zu verbessern, gescheitert: er wird nicht angehört und entwickelt
daher zunehmend Haß gegn die Menschheit. So wendet er sich Quiwi
und sich selbst zu, was ihm, wenn auch nur begrenzt, Handlungsspielraum
gewährt. Quiwi muß in die anorganische Welt des Granits zurück.
Obwohl sie sich durchaus dorthingezogen fühlt, möchte sie diesem
Wandlungsprozeß entfliehen. Um der bevorstehenden Einsamkeit zu entgehen,
versucht sie mittels einer Intige Rübezahl zum Mittkommen zu bewegen. Die beiden zentralen Entwicklungslinien - Rübezahls pädagogisch
motivierter Haßfeldzug gegen die Menschheit und Quiwis eigennützig-uneigennützige
Intrige - werden ineinandergeschoben: die Handelnden reden aneinander vorbei,
die unabhängig verlaufenden Quasi-Monologe ergeben jedoch eine neue
Bedeutungsebene. [...] - Monolog: Dem Solotenor ist die "lyrische Szene" auf das Gedicht
El ángel bueno III von Raffael Alberti anvertraut. Es spricht
in unverhüllter Erotik von der Ankunft des geliebten Engels, vom Einswerden
mit dem göttlichen Lebensprinzip. Musikalisch ist dieses luftige Stimmungsbild
zwischen gläsernen Diskantklängen in Klavier und Glockenspiel
und sonoren Klarinetten- und Klavierregistern aufgespannt.
- Traum 1: Nach Günter Eichs Hörspiel Träume
(1951). Träume mit Ereignischarakter, Träume, die sich anhören
wie Radionachrichten. Eine vierköpfige Familie auf der Flucht vor
einem anonymen "Feind". Die Nachbarin, die sie aufnimmt, schickt sie dann
doch wieder weiter. Ihre Angst wird zunehmend größer und korrespondierend
dazu nimmt die Dichte der Musik zu, bis die Figuren schließlich auf
sich allein gestellt handeln. Bis dahin waren sie fester Bestandteil eines
Kontextes - der Gesang war in ein festes einheitliches Metrum und Taktschema
integriert - jetzt wird der gemeinschaftliche Kontext aufgegeben. Die Proportionen
werden eigenständig, der Zusammenhang der Musik wird aufgelöst
und die Anzahl der Instrumente nimmt ständig ab.
Der Bürgermeister als "Freund" der Bedrängten rät: "Geht
fort, ehe ihr verhaftet werdet. Kein Wort mehr!" Der musikalische Zusammenhang
zerfließt; die Instrumentation ist ausgedünnt. An Choräle
gemahnende Horn- und Fagottakkorde. Am Schluß steht die Frage: "...
und wohin gehen wir?" Simultan die Antwort: "Gott sei Dank, wir kommen
ins Freie!" Der Choral schrumpft zum mikrotonal getrübten Pseudo-Einklang.
Plötzlich ist die Angst verschwunden. - Instrumentale Szene: Diese Szene sieht ein Bewegungstheater
vor, dessen exakte Ausarbeitung der jeweiligen Inszenierung angepaßt
wird. Die inhaltliche Deutung der Szene ist Bestandteil der Regie. Das
instrumental am dichtesten besetzte Bild des Werkes verläuft in zwei
Steigerungswellen. Harmonische, rhythmische, klangliche und gestische Strukturen
entwickeln sich zeitgleich und unabhängig voneinander.
- Lyrische Szene: Das nicht näher definierte lyrische Ich
des Sopran-Solos verliert sich in den unendlichen Weiten des Raumes, um
schließlich im Schoß der Mutter Erde Geborgenheit - und letzte
Ruhe zu finden. Musikalisch verläuft dieser Übergang aus Arno
Holz' 13 verschluchzenden Ikten... durch zahlreiche klangliche Farbwechsel:
tiefes Marimbaphon und Pedaltöne der Trompete und Posaune, Klarinettenflageoletts
und irisierendes Metallschlagwerk grundieren die Szenerie. Der Übergang
zum nächsten Bild erfogt abrupt.
- Traum 2: Dieser Traum aus Günter Eichs Hörspiel
führt in ein exotisches Ambiente: Wassilij und Anton befinden sich
auf einer Afrikaexpedition. Eine Mahlzeit, welche ihnen der einheimische
Koch zubereitet, läßt sie zunehmend das Gedächnis verlieren
- beide wissen am Ende nicht einmal mehr, warum sie eigentlich hier sind.
Ihre Sprache wird stetig undifferenzierter, wegen fehlender Artikel und
Pronomina zunehmend sinnentleerter.
Der Koch erklärt ihnen, daß es sich um ein Attentat gehandelt
habe: ihr weiteres Schicksal sei ihnen nunmehr selbst überlassen.
Somit von allem - auch von der eigenen Biographie - abgeschnitten, kommen
sie überein, auf der Suche nach dem Glück (gewesen) zu sein.
Während Anton aber weiter danach forschen will, meint Wassilij, im
Verweilen sein Glück bereits gefunden zu haben. Die Forschermentalität, die diese Expedition scheitern läßt,
beeinflußt auch die Wahl des musikalischen Materials. Verschiedene
Zitate - wie das Palästinalied von Walter von der Vogelweide,
Quedaos, adios von Escobar, Ich suchte des Nachts von Buxtehude
und der Militärsinfonie von Haydn - stehen exemplarisch für
Marco Polos Pekingreise (1375), Kolumbus' Amerikareise (1492), die erste
deutsche Kolonie in Südafrika (1683) und die Erforschung Innerafrikas
(1788). Dem wird musikalisches Material aus den "entdeckten" Ländern
gegenübergestellt; so die eher "bodenständigen" Melodiefolgen
des Kochs (während die der beiden Forscher in der Luft zu hängen
scheinen). Die Isolierung Wassilijs und Antons - die schon zu Beginn wie
Fremdkörper in Ihrem musikalischen Umfeld stehen - nimmt zum Ende
des Bildes immer mehr zu. Wassilij bleibt schließlich allein zurück, auf den Lippen
die Worte aus Dantes Paradiso: "Wo sollen wir sein: wo immer wir
waren. Worte verlieren ihren Sinn - auch 'Glück': das Glück ist
hier."
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